fluss-frau.ch
Moësa Logbuch

von Liliane Waldner

Einführung in die Moësa

Das Misox bietet mehr, als es die Fahrt mit dem Eilbus Bellinzona-Chur erahnen lässt. Die Moësa ist ein 47 Kilometer langer Fluss. Sie entspringt auf 2‘062 m.ü.M. dem Laghetto Moesola beim San Bernardino-Pass und mündet auf 240 m.ü.M. nach überwindung eines Höhenunterschiedes von 1‘822 Metern bei Arbedo-Castione im Ticino. Sie fliesst durch die Kantone Graubünden und Tessin.

Mehr dazu auf:
https://de.wikipedia.org/wiki/Mo%C3%ABsa_(Fluss)

11. Juli 2014: Arbedo - Cama


Ich steige bei der Haltestelle Arbedo Rotondello an der Moësa-Strasse aus. Von dort gelange ich direkt zum Fluss und gehe ein Stück weit Richtung Mündung bis zur Kreuzung mit dem Ticino-Wanderweg Bellinzona - Biasca. Genau dort habe ich die Abzweigung ins Misox auf meiner Ticinotour gesehen. So verknüpfe ich meine eigenen Wegspuren entlang des Schweizer Flusssystems.

Auf einem breiten Wanderweg marschiere ich entlang des bewaldeten Flussufers flott Richtung Roveredo und gelange vom Tessin in das südbündnerische Misox. Unterwegs fotografiere ich noch einen prächtigen Hirschkäfer, der sich auf dem Kies des Wanderweges sonnt. (Meine Cousine Monique Hunziker hat ihn auf dem Foto identifiziert.) Roveredo empfängt mich mit einer Riesenbaustelle der Umfahrung Roveredo. Die N13 soll Roveredo künftig via einen Tunnel umfahren. Brombeerstauden säumen den Weg und die überreifen Früchte halten mich einige Minuten auf.

Bald habe ich Roveredo durchschritten und Bahnhof und Linie der stillgelegten Misoxerbahn gekreuzt und glaube mich bald im nächsten Grono, wo ich meine Rast plane. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Ich erwarte, dass der bequeme, schnelle Weg so weiter geht, was eine Weile lang so aussieht. Bald nach der Grotto am oberen Ortsausgang steigt ein steiler Pfad in die Höhe. Weiter vorne ist ein anderer Teil der Ortsumfahrung sichtbar und der Lärm der schweren Maschinen hörbar. Ein Schild warnt vor Sprengkörpern. Auf der Website der Umfahrung erfahre ich, dass für den Tunnel Sprengarbeiten ausgeführt worden sind.

Jetzt folgt das anstrengendste Bergweg-Stück, das ich seit vielen Jahren zurückgelegt habe. Der Weg führt in teils steilem Auf und Ab sowie einigen, engen Zick-Zacks entlang eines Felsenhanges mit riesigen Geröllstücken. Oft muss ich über mehr oder weniger lose Felsblöcke und Steine steigen. Meine Konzentration und meine Koordinationsfähigkeiten sind äusserst gefordert. Ich schalte das Zeitgefühl aus und schaue nur auf den nächsten Schritt. Das Tosen der Moësa übertönt alle anderen Geräusche. Dazwischen geht es vielleicht einmal zehn oder zwanzig Meter lang normal voraus, bevor wieder über Geröll oder einen umgekippten Baumstamm gestiegen werden muss. Oft macht dichtes Pflanzenwerk die nächsten Tritte schlecht sichtbar. Manchmal bin ich froh, mich an den Felsblöcken festhalten zu können. Ich frage mich, ob das unterhalb des Weges gespannte Auffangnetz entlang der Moësa dazu dient, abgestürzte Wanderer oder herunterstürzende Felsbrocken vor dem Sturz in den Fluss zu bewahren.

Der Weg geht steil unter das Drahtgeflecht hindurch, wo ich einen Steg erblicke. Vorher muss ich jedoch aufpassen, von den stachligen Sträuchern nicht allzu sehr verkratzt zu werden. Es ist wie in einem Urwald mit Geröllboden. Auf dem Geländer des Steges sonnt sich eine Eidechse, während andere rasch hin und her huschen. Nach dieser Adrenalin-Tour normalisiert sich der Bergweg allmählich und ich komme etwas flüssiger voran. Eine Schlüsselfähigkeit zum Meistern solch anforderungsreicher Passagen ist das lange Stehen auf einem Bein. Ich übe es jeden Morgen in meinem Gymnastikprogramm. Dadurch kann ich einige Sekunden auf einem Bein stehen, bis ich mit dem anderen Fuss den nächsten Tritt sicher fassen kann. Natürlich dienen mir draussen die Stöcke als Stabilisatoren.

Ich entspanne mich. Hunger und Müdigkeit melden sich an. Ich marschiere in der Hoffnung auf einen baldigen Rastplatz weiter. Der Wald lichtet sich und ich erblicke ein Rustico. Der Kettenhund hinter dem Rustico bellt. Das stört mich jedoch nicht. Jetzt muss gerastet, geruht werden. Ich hocke auf die schmale Bank vor dem Rustico und trinke gierig Tee. Als mich ein Paar Krümel des Getreidestengels zum Husten reizen, geht die Bellerei wieder los. Vis-à-vis steht auf einem Baumstrunk ein umgekehrtes Nachtgeschirr, weiter links ist ein Schädel eines Hausschweins ausgestellt (laut Monique). Es stehen oder hängen noch andere originelle Dinge herum.

Als ich weitergehe, treffe ich auf ein einheimisches Paar, von dem ich erfahre, dass in diesem Rustico (vermutlich ohne Strom und Wasser) ein besonderer Typ wohnt. Ich vermute, dass er Schafherden hütet und sich mit den Tieren weiter weg befindet. Weil es beim Rustico etwas speziell riecht, frage ich mich, wie er seine sanitäre Situation handhabt.

Nach der Anstrengung höre ich nicht auf, sondern will jetzt den bequemen Weg geniessen und etwas in den Nachmittag hinein laufen. In Grono zweigt übrigens das Calancatal ab. Ich gehe aber entlang des Ostufers. Nach Leggia sind es 45 Minuten und von dort bis Cama 30 Minuten. Diese Zeiten sind in Ordnung, ebenfalls die zwei Stunden von Arbedo nach Roveredo. Bei der Azienda vor Leggia ist niemand zu Hause, um mir Bio-Käse zu verkaufen. Die Leute sind vielleicht auf der Alp, nur ihre Ziegen sind da. Das Bio-Agrituristo vor der Brücke nach Leggia verkauft nichts. Erst im Laden von Cama komme ich zu lokalem Käse. Unterwegs treffe ich bei Cama noch auf zwei Schilder, die andeuten, dass dort Salami produziert wird.

Noch etwas zur Wegzeit von Roveredo nach Grono. Sie beträgt offiziell eine Stunde, was etwa proportional zur Distanz zwischen Arbedo und Roveredo ist. Ich benötige sicher das doppelte und frage mich, wer das in der angeschriebenen Stunde schafft. Vielleicht Ueli-Steck-Typen, die überall joggen, wo es nicht gerade senkrecht hinauf geht.

Links:
http://www.csd.ch/de/aktuelles/news/h/ac052222c94eb91e99b2e19447b027a9/article/n13-tunnel-umfahrung-roveredogr-beginn-der-bauarbeiten.html
Zum Seitenanfang
23. August 2014: Cama - Soazza

Wenn in diesem nassen Sommer nichts mehr geht, kann ich noch ins Misox ausweichen. Heute ist es ungewohnt trüb, als der Zug aus dem Gotthardtunnel hinausfährt. In Bodio und Biasca regnet es sogar. Gegen das Misox hin wird es immer heller und freundlicher. Die Wiesen sind noch nass.

Nach meinem Start in Cama erreiche ich bald Sorte. Unterwegs sehe ich noch den Turm des Castel Norantola aus dem Wald hinausragen. Bei Sorte komme ich mit Gabriela, einer Luzernerin, die das Leben ins Misox gebracht hat, ins Gespräch. Gemeinsam marschieren wir bis fast nach Lostallo, wo sie ihr Auto parkiert hat. Sie wandert in ihrer freien Zeit gerne der Moësa entlang. Sie lädt mich ein, ebenfalls den Brenno hoch zu laufen und sie in ihrer Alphütte auf dem Lukmanier zu besuchen. Sie empfiehlt mir zusätzlich das Calancatal sowie das Bavonatal. Wir trennen uns beim Parkplatz und ich marschiere weiter.

Lostallo war in der Nach-Achtundsechziger-Zeit ein Begriff. Dort entstand damals eine Kommune der Arbeits- und Lebensgemeinschaft Longo Maï. Sie hat sich in Lostallo zwischenzeitlich aufgelöst. Dafür treffe ich eine Gruppe Esel an. Zwischen Cabbiolo und Soazza fallen mir Schieferformationen auf, die wie ein Kunstwerk geschichtet und gefärbt sind. Der Fels sieht fast wie Holz aus. Ab Cabbiolo ist der Sentiero della Valle wunderschön und verläuft stellenweise nahe dem Fluss entlang. Ich raste in Cabbiola. Auf dem Weg glänzen aus einigen Sträuchern reife Brombeeren. Bald erblicke ich auf einer markanten Anhöhe die Kirche von Soazza. Ich habe das Gefühl, auf einem historischen Weg zu gehen, der sogar durch Tunnel führt. Die Internetrecherche ergibt, dass der Weg auf einem Trassee der früheren Misoxer-Bahn liegt. Am Schluss steigt der Weg auf historischer Pflästerung steil nach Soazza Centro hinauf.

Ich kaufe im Dorfladen Bio-Alpkäse aus Pian San Giaccomo. Als ich wünsche, dass die Verkäuferin das halbe Kilo so teilt, dass ich die eine Hälfte auf der Heimfahrt im Zug essen kann, schneidet sie mir diese Hälfte flink in mundgerechte Stücke. Dieser aussergewöhnliche Service des Dorfladens verdient Erwähnung. Der Käse mundet zudem ausgezeichnet.

Für den Weg von Cama nach Soazza sind etwa vier Stunden zu veranschlagen.

Links:

https://nossaistorgia.ch/galleries/viafier-bellinzona-mesocco-misoxerbahn-ferrovia-bellinzona-mesocco
https://www.youtube.com/watch?v=MQyL6O8i7Gw
https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=misoxerbahn&mid=F658E0C77A952120061DF658E0C77A952120061D&FORM=VIRE
http://de.wikipedia.org/wiki/Soazza
Zum Seitenanfang
24. August 2014: Soazza - Mesocco

Grundsätzlich kann die Etappe Cama - Mesocco gut in einem Tagesmarsch bewältigt werden. Ich möchte mir jedoch ausführlich Zeit für das im 13. Jahrhundert errichtete  Castello Mesocco nehmen, das als Wahrzeichen des Misoxes erachtet werden kann. Ferner habe ich durch die Zweiteilung der Strecke Cama - Mesocco das Risiko des sich ankündigenden Regens vermieden. Wird das Schloss einbezogen, sollten für die Strecke Soazza - Mesocco mindestens zwei bis zweieinhalb Stunden reserviert werden.

Heute erlebe ich wieder einmal, dass eine Postautofahrt auf dem Land viel persönlicher und familiärer ist als eine anonyme Tramfahrt in der Stadt. Eine Gruppe Deutschschweizer Frauen steigt in Bellinzona in den Regiobus ein. Ein Bekannter des Chauffeurs fährt mit und hilft als übersetzer. Der Chauffeur macht einige humoristische Bemerkungen, welche nach der übersetzung von der Frauengruppe heiter aufgenommen werden. Als in Roveredo zwei Personen aussteigen, ruft der Chauffeur zur Gruppenleiterin spasshaft, nun hätten sie bereits zwei Personen der Gruppe verloren. Dies wird von der Frauengruppe mit Gelächter quittiert. Sie verlässt den Bus unter gegenseitigen humoristischen Bemerkungen in Grono, um Richtung Calancatal umzusteigen. Der Chauffeur kennt manche Passagiere persönlich und tauscht sich auch mit einzelnen Passanten entlang der Strecke kurz aus. Vorteilhaft ist diese persönliche Atmosphäre im ländlichen Postauto für Schulkinder. Der Chauffeur kennt sie oft persönlich und weiss, wo sie hingehören bzw. aussteigen können. So können die Eltern ihre Kinder für den Schulweg getrost dem Postauto anvertrauen.

Ab Soazza folge ich wieder dem angenehmen Sentiero della Valle. Er ist breit angelegt und führt immer leicht aufsteigend oberhalb der Strassen den Hang entlang Richtung Mesocco. Er zweigt gegenüber der Burgruine steil zum Parkplatz ab und von dort gelange ich auf einem Fahrweg zur imposanten Burgruine. Sie ist gut erhalten und sie lebt. Am Vorabend hat im Schlosshof ein Hochzeit stattgefunden, für das ein Zelt aufgestellt worden ist. Jetzt räumt die Catering-Firma auf. Vom Schloss aus geniesse ich einen Panoramablick talabwärts, auf die Moësa sowie talaufwärts zum nahen Mesocco sowie Richtung Pian San Giaccomo. Unterhalb des Schlosses liegt die Kirche Santa Maria aus dem Jahr 1050. Sie ist geschlossen. Eine Kasse zeigt an, dass Geld für deren Renovation gesammelt wird.

Ich habe noch gut Zeit für Kaffee und Kuchen in Mesocco. Eigentlich wäre etwas lokaler Wein samt Schinken angepasster gewesen.

Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Castello_di_Mesocco
http://de.wikipedia.org/wiki/Santa_Maria_del_Castello_(Mesocco)
Zum Seitenanfang
29. August 2014: Mesocco - San Bernardino Villagio

Nach einem feinen Cappucino für CHF 3.00 (das Gipfeli dazu musste ich mir vom Coop nebenan besorgen) setze ich mich auf den Weg. Ob Cebbia gelange ich auf einer Weide unter die Esel. Ich habe vorher nie so viele Esel auf einmal gesehen. Es sind etwa 20 bis 30 Tiere. Ich nutze die Gelegenheit zu fotografieren. Während ich den Rucksack auf einen sauberen Platz stelle und die Kamera auspacke, spüre ich an meinem Rücken die Nase eines besonders neugierigen Esels. Die Esel begegnen mir mit einer sanft aufdringlichen Neugier. Sie schnuppern an Rucksack und Stöcken. Es ist eine friedliche, gutmütige und sympathische Gruppe, die mein Herz erobert. Ich mag diese munteren Kerle spontan. Esel verdienen ein gutes, positives Image in unserer Gesellschaft. Es gibt keine dummen Esel, nur gedankenlose Menschen.

Danach steigt der Weg in Serpentinen steil an, kreuzt die N13 via Tunnels sowie die Kantonsstrasse bis Pian San Giacomo. Auf dieser Hochebene liegt eine ausgedehnte Moorlandschaft. Die Wildtiere werden durch ein Jagdbanngebiet geschützt. Auf einem breiten Weg steige ich leicht, aber stetig an und komme bei einzelnen Ferienhäusern oder Alphütten vorbei. Ich raste bei einer Sitzbank mit Aussicht auf die Ebene sowie das unter mir liegende Staubecken.

Nach einem weiteren, stetigen Aufstieg erblicke ich, wie die Moësa über eine felsige Wand hinunterfliesst. Leider besteht kein sicherer Zugang zu einem Fotoblick. Danach folgen einige steile Serpentinen bis Pignela Sura. Weiter unten wird eine Ponte Romano angezeigt. Ich bleibe auf dem Weg, auf dem bald auf eine seltene Fichtenart hingewiesen wird, auf die „Abete Rosso Colonnare“. Ich steige die 50 Meter hoch, um sie zu fotografieren. Laut meiner Internetrecherche heisst sie auf Deutsch Säulenfichte oder Kolonnentanne. Der Flurname heisst Caurga.

Der weitere Marsch durch den Wald ist meditativ und erholsam. Er lädt zum Tagträumen ein. Nach geraumer Zeit taucht die Talsperre des Lago d’Isola auf und nach zwei Kehren finde ich eine Sitzbank mit Blick auf die Krone der Mauer und den Stausee. Teerast. Ab dann ist es nicht mehr weit nach San Bernardino Villagio. Dort war ich als junge Frau 1976 das erste Mal in einem Viersternhotel, dem damaligen Albarella Neve. Es befand sich nach dem Chiasso-Skandal der Kreditanstalt und deren örtlichen Direktor Kurmeier in der Konkursmasse. Es wurde mit günstigen Wanderwochen für das einfache Volk gefüllt, damit etwas Geld in die Kasse kam. Heute macht der Bau einen eher vernachlässigten Eindruck und es sind nur noch drei Sterne angebracht. Er wirkt leblos. Auffällig ist die Kirche mit ihrem Kuppelbau im Ortszentrum. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Gemäss meiner Internetrecherche befindet sich ob San Bernardino eine stark kalziumhaltige Mineralwasserquelle.

Weil das Postauto ab Passhöhe bald nach vier Uhr fährt, ist für heute Feierabend. Die offizielle Wanderzeit Mesocco - San Bernardino Villagio beträgt 4 Stunden 30 Minuten. Der weiss-rot-weisse Bergweg hat mehrheitlich den Charakter eines Wanderweges, der anderswo auch gelb bezeichnet werden könnte.

Links:

https://lanostrastoria.ch/entries/Zb67gqkQnrM
http://de.wikipedia.org/wiki/San_Bernardino_GR
Zum Seitenanfang
1. September 2014: San Bernardino Villagio-San Bernardino Passo

Gemäss SRF Meteo hätte es um zwei Uhr in der Früh regnen aufhören sollen. Hätte! Es nieselt, als ich ankomme. Der Bergweg ist nass, ebenfalls die Felsplatten darauf. Ich habe zwei Alternativen: mit dem nächsten Postauto via sonnigem Bellinzona nach Hause fahren oder auf der Passstrasse hinauf marschieren. Wer fährt bei diesem Wetter über die San Bernardino Passhöhe?

Alternative zwei sticht. Wann habe ich als Fussgängerin einmal eine ganze Strasse für mich? Alle etwa drei bis fünf Minuten fährt ein Auto oder Motorrad vorbei. Der Bergwanderweg verläuft praktisch parallel zur Strasse und kreuzt diese mehrmals. Bezüglich Luftqualität, Aussicht und Ruhe ist es dasselbe. Ich bin mir gewohnt, im Winter auf dem Weg zu Sitzungen oder Anlässen zu Fuss die Stadt zu durchqueren. Dann kann ich regelmässig trainieren, wenn die Wege am Uetliberg von Schnee und Eis glatt sind. Mir machen einige Kilometer Asphalt nichts aus.

Ich komme entlang der Strasse rasch voran, schneide mangels Verkehr die Kurven, laufe sogar minutenlang in der Mitte und geniesse es. Manchmal fällt ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und beleuchtet kurz einen Berghang. Tief unter mir sehe ich bald den Lago d’Isola. Ich finde das Equilibrium, bei dem ich weder schwitze noch friere, sondern angenehm warm habe, auch mit meinen baren Händen. Bei Ca de Mucia raste ich kurz und wundere mich, was dieses dem Kanton gehörende Häuschen bedeutet. Weiter oben kreuze ich einen Wagen aus Karlsruhe und der Fahrer winkt mir zu und ich ihm zurück. Ich denke in ZVV-Manier: Ich bin auch ein Auto. Nur Seinesgleichen grüssen sich beim Kreuzen auf der Landstrasse.

Allmählich werden die Windböen heftiger, die ich weiter unten vereinzelt kurz gespürt habe. Es will nicht mehr aufhören. Der Wind drückt mich manchmal fast von der breiten Fahrbahn. Wenn er von vorne kommt, drängt er mich fast wieder hinunter. Dann laufe ich wie gegen eine Wand. Ich komme an einem offiziellen Kletterfelsen vorbei, den ich fotografiere. Ich gerate wegen der sturmartigen Böen aus dem Equilibrium. Ich habe eine Kaputzenfleece-Jacke an, darüber eine kleine Regenjacke und beide Kapuzen über den Kopf gezogen. Trotzdem dringt die Kälte immer mehr durch. Ich kreuze einen einsamen Radfahrer, der vermutlich auch mit den Elementen kämpft. Der Nieselregen geht in Graupelschauer über. Die untere Linie mit dem Neuschnee kommt näher. Der Pass wirkt wie ein Windkanal. Er bläst jetzt nur noch von vorne, als ich die Höhe und den unteren Teil des Laghetto Moësa und den Abfluss der Moësa erreiche. Ich muss diese Flussquelle fotografieren, obwohl ich vor Kälte fast klappere, mit meinen klammen Fingern die Rucksackschnallen kaum mehr öffnen und die Kamera mit Mühe auspacken und betätigen kann. Das Hier und Jetzt muss festgehalten werden, koste es, was es wolle. Der kleine See treibt Krönchen von Gischt vor sich her.  Danach kämpfe ich gegen den Wind weiter und versuche, mich auf den Füssen zu halten. Dann taucht plötzlich das Hospiz auf.

Jetzt weiss ich, wie es den Fuss-Reisenden in früheren Jahrhunderten zu Mute sein musste, wenn sie auf einer Passüberquerung ein Hospiz erreichen. Dabei bin ich nur etwas mehr als zwei Stunden unterwegs gewesen. Ich erfahre vom Postauto-Chauffeur später, dass er nur mich und den Radfahrer gesehen habe, die mit Muskelkraft unterwegs gewesen sind. Er hat mich unterwegs zweimal gekreuzt. Er sagt, die Temperatur betrage 6 Grad.

Ich werde in der Gaststube des uralten, an den Fassaden bröckelnden Hospizes herzlich aufgenommen und betreut. Zuerst rast der Kuhnagel meines Lebens durch die taube linke Hand. Ich hocke auf eine Wandbank und schlottere jetzt richtig. Die freundlichen Gastleute lassen mich in Ruhe. Nach einigen Minuten kommen meine Lebensgeister zurück, kann ich mir einen Kaffee samt Nussstange genehmigen. Ich kaufe von der Wirtin und Köchin lokalen Alpkäse und sie schneidet mir ein extra Stück zum Probieren ab.

Gerne hätte ich noch das Strassenschild mit dem San Bernardino Pass darauf fotografiert, bevor das Postauto kommt. Ich wage mich aber nicht aus dem schützenden Windschatten der Hauswand heraus. Ich will nicht wieder vor Kälte klappern. San Bernardino Pass und Moësa-Quelle sind geschafft. Das Misox bietet einen Hauch heimischen Abenteuers.
Zum Seitenanfang